Sláine - Die Quellen

von Pat Mills (aus dem englischen übersetzt von Jens R. Nielsen)

 

(Der folgende Text erschien ursprünglich in 2000 AD Nummer 352 als Antwort auf mehrere Briefe und Anfragen von Lesern)

 

 Sláine hat seine Wurzeln in keltischen Legenden und keltischer Geschichte und spielt während eines sagenhaften keltischen Goldenen Zeitalters. Die Anderswelt von Tír na nÓg, dem Land der ewigen Jugend, kommt in der keltischen Mythologie unter verschiedenen Namen immer wieder vor. Diese Mythen erzählen von – im wahrsten Wortsinn – untergegangenen Ländern, von einer großen Flut und von anderen, schrecklichen Katastrophen. Die Frage war, wo sich diese untergegangene, versunkene Welt befunden haben könnte. Irgendwo in der Nähe – das schien am wahrscheinlichsten. Ich nahm mir also Karten vor, die Britannien und Éire vor Tausenden von Jahren zeigten, als die Nordsee noch eine Landmasse gewesen ist und die britischen Inseln mit dem Kontinent verbunden waren.

 

 

Gälische Legenden

 

 Die historischen Kelten gelangten erst um 700 v.u.Z. nach Britannien, als eine Verbindung zum Festland schon nicht mehr existierte. Aber in Sláine haben wir es nicht mit historischen Kelten zu tun, sondern mit den Kelten der Legende – mit im Mythos und in der Sage erinnerten Vorfahren, denen die historischen Kelten nicht wenige ihrer eigenen Sitten und Gebräuche andichteten. Die irisch-gälischen Legenden sind die ältesten, sie lieferten den unverstelltesten Blick auf den Hintergrund, vor dem Sláine sich entfaltet. Heute werden die irisch-gälischen Legenden von Historikern herangezogen, um Aussagen nicht nur über die Vorfahren der heutigen Iren, Schotten und Waliser zu treffen, sondern auch über Bretonen und andere kontinentaleuropäische Kelten. Sláine ist von daher kein rein irischer Held, sondern ebenso ein Brite … oder besser: Er ist ein Kelten-Held im umfassendsten Wortsinn.

 

 

Die Erdgöttin

 

 Die gälischen Legenden werden in „Sagenkreisen“ zusammengefasst. Deren ältester handelt von den Túatha dé Danann, den versammelten Stämmen (altirisch „túath“ = „Volk“) der Erdgöttin Danu. Diese stammten ursprünglich wahrscheinlich aus Britannien und waren „bewandert in Wissenschaft, Magie, Druidentum und Hexerei. Sie waren weise.“ In einer der Legenden können sie fliegen. Wahrscheinlich haben sie die Dolmen aufgestellt und andere Megalithbauwerke errichtet – Steinzirkel wie den in Stonehenge. Bis heute werden sie mit prähistorischen Tumuli und „heiligen Hügeln“ in Verbindung gebracht. Da vorzeitliche Menschen offensichtlich eine weibliche Erdgottheit verehrten, dürften die Túatha dé Danann, die Stämme der Erdgöttin, eine historische Grundlage gehabt haben.

 

 

Der Verwindungskrampf

 

 Ein weiterer gälischer Sagenkreis ist der jüngere Ulster-Zyklus (irisch an Rúraíocht, „Legenden um den Roten Zweig“), in dem Cú Chulainn eine der Hauptfiguren ist, der öfter in einen merkwürdigen Blutrausch gerät. Damit war er aber nicht allein. Auch andere, weniger bekannte Helden (wie zum Beispiel Murdach und Congal) konnten in Zustände geraten, in denen sie nicht mehr sie selbst waren und Freund und Feind gleichermaßen angriffen. Es existieren historische Berichte über frühe Kelten, die in der Schlacht nackt die feindlichen Linien stürmten und sich wie Verrückte aufführten. All das weist darauf hin, dass es eine Kaste von keltischen Berserker-Kriegern gegeben haben könnte, gegen die ihre Entsprechungen auf Seiten der Wikinger ziemlich alt ausgesehen hätten. Natürlich wäre Sláine solch ein „mit der Erdkraft verwundener“ Krieger gewesen. Cú Chulainn war berühmt für seine enorme Gewandtheit. Wie er dürften alle keltischen Krieger gewesen sein. Die alten Römer berichteten, wie die mit Streitwagen auf sie zurasenden Britannier auf den Deichseln ihrer Gespanne herumturnten.

 

 Im Ulster-Zyklus wird auch ein eigenartig gekerbter Speer erwähnt, der Gáe Bolga, die Jagdwaffe Cú Chulainns. Anderen Quellen zufolge existierten solche scheußlichen Waffen tatsächlich und viele keltische Krieger mögen sie verwendet haben.

 

 

Finn

 

 Der dritte Sagenkreis handelt von Finn oder auch Fionn Mac Cumhaill und seinen legendären Rittern, den Fianna. Ich habe zwar nicht auf den Finn-Zyklus zurückgegriffen, als ich an Sláine gearbeitet habe, aber die keltischen Sagen kreisen um universelle Themen und Motive. Ihre Geschichten wurden wieder und wieder erzählt, oft mit neuen Helden und in leicht abgewandelter Form, so dass es nicht verwunderlich sein dürfte, wenn der eine oder andere Leser bei der Lektüre von Sláine auch Übereinstimmungen mit dem Finn-Zyklus ausmacht.

 

 

Der Rote Zweig

 

 Der Rote Zweig ist ein gutes Beispiel für die Universalität mythischer Erzählungen. Obwohl er ganz bestimmt aus dem Ulster-Zyklus stammt, liegen auch diejenigen irischen Sláine-Leser, die ihn mit dem Finn-Zyklus und den Fianna assoziieren, nicht vollkommen falsch. Jüngere irische Volksmärchen bedienen sich beider Zyklen.

 

 In Sláine ging es mir um eine Gruppe mächtiger Krieger. Dabei auf den Roten Zweig, auf die Fianna und auf die Ritter der Tafelrunde aus der Artus-Epik zuzugreifen, war angesichts der zahlreichen motivischen Übereinstimmungen naheliegend. In allen drei Erzählungen geht es um einen Zusammenschluss mächtiger, mystischer Helden. Außerdem war mir aufgefallen, dass in archäologischen Rekonstruktionszeichnungen keltischer Rundhallen die Logen der Krieger kreisförmig angeordnet und zum Innenraum hin ausgerichtet waren – wie in einer Versammlung von Gleichen, deren Gleichrangigkeit durch den identischen Abstand zu dem in ihrer Mitte sitzenden König veranschaulicht wurde. Die Ähnlichkeit dieses Konzepts mit Artus’ Tafelrunde ist, finde ich, schlagend.

 

 Ich arbeite nicht gern mit ausgedachten Namen, sondern ziehe korrekte, überlieferte Bezeichnungen vor, wo immer ich kann. Deswegen gibt es in Sláine einen Roten Zweig, der sich in einer Rundhalle versammelt (und keinen „grünen“ oder „goldenen“ Zweig). Auch die Verbindung der Krieger des Roten Zweigs mit Lug, der Sonne (vgl. „Morgendämmerung“), und mit keltischem Okkultismus ließ den alten Namen passend erscheinen.

 

 

Druiden

 

 Die keltischen Druiden wurden von den Römern als ein verruchter, blutrünstiger Haufen beschrieben. Ein Nachhall solch übelwollender Schilderungen findet sich auch in der Darstellung Myrddins (Merlins) in angelsächsischen Aufzeichnungen der Artus-Epik.

 

 Auf solche Beschreibungen geht meine Aufspaltung der Druiden in zwei Fraktionen zurück, in die bösen Drune-Lords des Südens und die guten Druiden des Nordens, die uns in der Sláine-Episode „Der Zeitenkiller“ begegnen werden. Drunemeton, der Name der Heimat der Drune-Lords, bedeutet übrigens „Heiliger Hain“.

 

 

Feg, der Gehäutete

 

 Wann immer möglich, habe ich in Sláine überlieferte Personennamen und real existierende Orte verwendet. Auch Lord Fegs schauerliche Tierhöhle gibt es wirklich. Es handelt sich um die Drei-Brüder-Höhle (La grotte des Trois Frères) in den Pyrenäen, die Massimo Belardinelli vor unseren Augen ganz großartig hat wiedererstehen lassen. Ihr Zugangstunnel erinnert an ein Labyrinth – oder besser: an das Urbild eines jeden Labyrinths, wie es im Mythos vom Minotauros überliefert ist. Die Höhle in den Pyrenäen ist über 20.000 Jahre lang von Menschen aufgesucht worden. An einer ihrer Wände befindet sich die Zeichnung ihres schändlichen Hüters, der sogenannte Tanzende Schamane, der niemand anders ist als Der Verworfene und Gehäutete Lord Feg.

 

 

Erdkraft

 

 Es gibt noch ein paar andere Motive in Sláine – zum Beispiel die Erdkraft, jene geheimnisvolle, die Menhire durchströmende Kraft. Erdkraft ist ein viel zu komplexes Thema, um hier näher darauf eingehen zu können. Nur so viel: Es ist faszinierend, wie sich unsere Vorstellungen über die Funktion stehender Steine im Laufe der Jahre verändern. Mithilfe der Radiocarbondatierung konnte festgestellt werden, dass viele Menhire sehr viel älter sind als bisher angenommen. Auch scheinbar abwegige Theorien über ihre Existenz werden neuerdings ernsthaft diskutiert.

 

 Am Ende lässt sich womöglich sogar eine Verbindung zwischen Menhiren und Druidentum nachweisen. Laut The Origins of Britain (1980, von Lloyd und Jennifer Laing) gibt es „immer mehr Belege, dass die keltische Religion der Druiden aus etwas viel Älterem hervorgegangen ist, etwas, das der vorzeitlichen Glaubenswelt angehört. […] Es kann daher als sicher angenommen werden, dass Stonehenge von bronzezeitlichen ‚Druiden’ errichtet worden ist.“

 

 

Kelten-Manie

 

 Wohl jeder dürfte seine eigenen, oft erbittert verteidigten Ansichten über alles hier zur Sprache Gebrachte haben. Ein Autor nimmt an, die Stämme der Erdgöttin Danu seien aus dem Mittleren Osten eingewandert; ein anderer ist sich sicher, sie stammten aus Dänemark. Nur wenige Quellen bezeichnen sie als Kelten. Aber Sláine ist eine erfundene Geschichte, die vor allem unterhalten soll. Von daher habe ich, wo immer ich auf einander widersprechende Theorien gestoßen bin, diejenige herausgepickt, die am spannendsten klang und die am besten in das Serienkonzept gepasst hat.